Bei heller Mittagssonne und tropischen Temperaturen stehen wir an einem Sonntag vor den 452 Meter hohen Zwillingstürmen in Kuala Lumpur und machen die typischen Bilder, die wahrscheinlich jeder KL-Tourist seit dem Stehen der Petronas-Türme aus der Hauptstadt von Malaysia mit nach Hause nimmt. Dieses Doppelgebäude ist nicht einfach nur hoch; es ist außerdem silber-glänzend, was es noch majestätischer erscheinen lässt. Es ist gigantisch! Damit hat sich Kuala Lumpur, das ‚schlammige Flussdelta‘, eine Attraktion geschaffen, die es blitzartig auf alle Reiseprospekte in der ganzen Welt katapultiert hat.
Wir sind in einem netten Hotel direkt neben den Türmen untergekommen, so dass wir am Abend noch ein paar obligatorische Nachtaufnahmen machen können. Außerdem haben wir so am nächsten Morgen die Tickets für die Brücke in Reichweite, von der aus wir auf einer Höhe von 172 Metern Kuala Lumpur überblicken werden. Obwohl ich schon ein paar Mal mit Verwandten und Bekannten über die Brücke gewandelt bin, ist es immer wieder beeindruckend. Es hilft, wenn man sich den Kinofilm ‚Verlockende Falle‘ mit Catherine Zeta-Jones und Sean Connery noch einmal anschaut, bevor man hochfährt.
Wir, das heißt eine Kollegin und ich, stehen vor den Türmen und bewundern das Bauwerk. Während ich gedankenversunken an meiner Kamera schraube, nimmt Chantalle eifrig Bilder mit ihrer Kompakten auf. Als ich mir schon einen netten Abend bei Rotwein ausmale, nähert sich aus der Ferne ein Insekt mit einem typisch hochfrequenten Summton. Der Summton wird lauter und lauter, bis er in unserer Nähe kurz in ein Brummen übergeht, um dann sofort wieder hochfrequent davon zu summen. Für eine Zehntelsekunde denke ich mir so etwas wie ‚Glück gehabt‘, wobei mir auch auffällt, das der Ton in der Nähe nicht mehr wie der eines Insekts klingt. Eine Zehntelsekunde später höre ich Chantalle kreischen und mit dem Arm in die Richtung eines davonfahrenden Mopeds zeigend fürchterlich schimpfen.
Erst viel zu spät stelle ich fest, was gerade passiert ist: Der Summton kam nicht von einer malaiischen Riesenhornisse, sondern von einem kleinen Moped mit dem Motor eines Rasierapparats. Das vermeintliche Insekt hat aus der Ferne dumme Touristen erkannt, sich dann herangepirscht, in Blitzesschnelle den Gurt der Handtasche durchgeschnitten, die Handtasche gegriffen und damit aus dem Staub gemacht. Warum bist Du nicht hinterher gelaufen, fragst Du? Versuch doch mal eine einzelne Ameise durch einen Ameisenhaufen zu folgen. In Kuala Lumpur scheint es für die Einwohner Pflicht zu sein, Moped zu fahren. Und alle sehen gleich aus.
Nun könntest Du gemeinerweise noch sagen: Glück gehabt. Es war ja nicht Deine Handtasche. Auch falsch. Seitdem ich denken kann, hasse ich das Tragen von Dingen, die man auch anders befördern kann. So habe ich als Zeichen meines vollen Vertrauens mein Portemonnaie in Chantalles Handtasche verstaut. Nachdem sich der Schock gelegt hat, ziehen wir Bilanz. Chantalle hat neben Reisepass und Tickets auch weniger wichtige Dinge abgegeben wie diverse Ausweise, Brille, Lippenstift etc. Da mein Vertrauen in die Handtasche einer Frau ein wenig limitiert ist, habe ich meinen Pass sowie die Tickets im Hotel zurück gelassen, während mein Portemonnaie mit allen Kreditkarten, Führerschein, Personalausweis, etwas Geld und einigen weniger wichtigen Passbildern mit auf die Stadtrundfahrt gegangen sind.
In Deutschland gehst Du zur Polizei und erstattest Anzeige. In Kuala Lumpur kannst Du das auch machen. Das Resultat ist, dass die netten Beamten Dich zuerst nicht verstehen oder verstehen wollen. Nachdem sich einer findet, der Interesse an beklauten Touristen hat, kann man seine Geschichte vortragen, wobei der nette Beamte eher wenig bis nichts auf sein Protokoll schreibt und Dich dabei mit einem verständnisvollen Blick ansieht. Dieser Blick sagt in etwa aus: Die Geschichte höre ich zwanzig Mal am Tag. Das war gestern so, das ist heute so und das wird morgen genauso sein. Danach bekommen wir das Protokoll zur Unterschrift. Da es in Malaiisch geschrieben ist, verstehen wir fast nichts. Das ist auch gar nicht wichtig, da unsere 20 minütige farbenfrohe Schilderung auf etwa fünf Zeilen zusammengefasst ist. Einzig das Inhaltsverzeichnis unserer verlorenen Gegenstände ist erkennbar.
Der Beamte nimmt uns noch jeden Funken von Hoffnung, dass wir unsere Habe wiedersehen könnten. ‚In ein paar Tagen werden die unwichtigen Dinge irgendwo auf dem Abfall auftauchen, während Geld und Karten für immer verloren sind. Da gibt es keine Möglichkeit, wie wir Ihnen helfen können.‘ Wahrscheinlich dachte er bei sich ‚ … und wollen.‘
Nach unserer Rückkehr zum Hotel rufen wir unsere Kreditkartenfirmen an, um den Verlust anzuzeigen. Auf die Frage, ob wir neue Karten brauchen, sagen wir sehr nachdrücklich ‚Ja, aber nach Kuala Lumpur und bis morgen‘, worauf das Gespräch in der Regel eine andere Wendung nimmt. Es gibt nur eine Bank, die diese Aufgabe einigermaßen lösen kann: die Citibank. Dadurch wird uns das nötige Geld für Hotel und alle anderen Ausgaben bis Ende der Woche in Aussicht gestellt. Bis dahin müssen wir uns mit dem wenigen Geld in unserer Hosentasche durchschlagen. Essen kann man im Hotel, und man lässt es – wie Kevin allein in New York – auf die Zimmerrechnung schreiben. Im Hotel weiß ja noch keiner, dass wir pleite sind. In schwarzen Anzug und Krawatte gekleidet bekommt man fast alles ausgehändigt. Auch pleite.
Das größere Problem besteht darin, Reiseticket und Pass für Chantalle bis zum Abflug am Samstag zu organisieren. Zuerst gilt es, eine holländische Botschaft zu finden. Da unsere Woche von Montag bis Freitag mit Veranstaltungen für unsere Kunden, Chantalles Firma, vollgepackt ist, müssen wir unsere Bank und Botschaftsgänge nebenbei erledigen. Während der eine die Kunden zu unterhalten hat, macht sich der andere auf Tour zum Amt, zur Bank, zum Reisebüro oder zur Botschaft. Das von der Polizei ausgefüllte Protokoll ist dabei die entscheidende Hilfe, da es uns offenbar tatsächlich als arme, bedauernswerte Hunde abstempelt, denen geholfen werden muss. Eine andere Auslegung der reibungslosen Wiederbeschaffung aller wichtigen Dinge könnte sein, dass jeder in Kuala Lumpur mit derlei Situationen sehr vertraut ist, so dass dafür vielfach erprobte Prozesse existieren.
Es ist an einem Sonntag, an dem wir Bekanntschaft mit der Malaiischen Riesenhornisse machen und einen kleineren Schock davontragen. Am Montag erzählen wir unsere Geschichte zwanzig Personen der Unternehmensführung unseres Kunden mit lächelnder Miene. Am Dienstag sind wir bereits mit Optimismus bewaffnet, dass wir den Rückflug antreten können. Am Mittwoch liegt ein vorläufiger Pass vor Chantalle, während sie ihren Teil des Seminars bestreitet. Am Freitag gibt es auch noch eine Kreditkarte, so dass wir keine Bank ausrauben müssen. Jedes Mal, wenn wir diese Geschichte heute erzählen, haben wir viel Spaß.
Die Quintessenz für Deinen nächsten Malaysia-Besuch könnte etwa lauten:
1. Lege nicht Deine Wertsachen in die Handtasche einer Frau, wenn die Henkel nicht mit Titan verstärkt sind.
2. Falls Du das doch aus einem unerfindlichen Grunde tun musst, stelle sicher, dass die Frau schneller als Renate Stecher rennen kann.
3. Falls Du beides nicht kannst, vertraue der lokalen Bürokratie, die aufgrund täglichen Trainings entgegen allen Erwartungen freundlich und offensichtlich mühelos mit scheinbar ausweglosen Situationen fertigzuwerden versteht.
4. Es gibt Schlimmeres.