Auf dem Weg vom Hotel zum Kunden gibt es das übliche Bild. Es stehen Kühe auf der Straße. Da die Kuh hier in Indien heilig ist, wird nicht gehupt. Es wird gewartet, bis die Kuh sich bewegt. Und die Kühe in Indien stehen nicht auf Bewegung. Doch Inder sind einfallsreich. Sie fahren auf der von der Kuh blockierten, zweimal zweispurigen Straße einfach in die Gegenfahrbahn ein, so dass sich die dort Fahrenden auf eine Spur zu beschränken haben. Eine Hälfte der Straße ist von Kühen blockiert. Die andere teilen sich die Autos. Indien eben.
Nach dem Eintreffen im Regierungsgebäude werden wir in einen Besprechungsraum geführt. Nach dem Austausch von ein paar Nettigkeiten mit unseren Gastgebern, höheren Regierungsmitgliedern einer Provinzregierung, geht es an die Arbeit. Für die Präsentation benötigt mein Kollege seinen Computer. Er beginnt, an seiner Tasche zu nesteln und bringt das Netzteil hervor. Wir sehen jedoch keinen Netzanschluss. Der indische Direktor gegenüber hat das bemerkt und drückt auf einen Knopf, der sich vor ihm auf dem Tisch befindet. Innerhalb der dem Summton folgenden Millisekunde öffnet sich die Tür und herein kommt ein dunkelhäutiger, barfüßiger Inder, der eine Art Rock ähnlich dem der Kikuyu in ‚Jenseits von Afrika‘ trägt.
Durch ein kurzes Zeichen mit dem Kopf und nach einer weiteren gefühlten Millisekunde Blickkontakt mit seinem Boss weiß er, was sein Job ist. Ohne ein Wort zu sprechen, geht er zu meinem Kollegen, nimmt das Netzteil, kriecht unter den Tisch und schließt es an. Die Situation hat etwas Unwirkliches.
Später fällt uns auf, dass jeder Inder am Tisch einen Knopf vor sich liegen hat. Dieser Tatsache verdanken wir die immer vollen Gläser vor uns. Wir dürfen uns nicht selbst einschenken. Hier bist Du entweder der, der am Tisch sitzen darf. Oder Du bist der, der die Bedienung innehat. Beides gleichzeitig geht nicht. Das widerspräche dem indischen Kastensystem, das seit Jahrtausenden geprägte Verhaltensregeln gebietet, an die sich Inder auch heute noch halten.
Als der ranghöchste Inder im Raum seine Ruftaste betätigt, erscheint ein besser eingekleideter Bediensteter. Er trägt eine augenscheinlich edle Schärpe über der Schulter. Jedoch auch er ist barfuß. Herr und Bediensteter wechseln kein Wort. Die Verständigung klappt trotzdem tadellos.
Das Kastensystem ist nicht auf Rassen oder Religionen gegründet, sondern basiert auf einer Art Abstammungslehre, die die Gesellschaft in fünf Hauptkasten mit vielen Unterkasten aufteilt. Berufe sind oftmals kastenzugehörig. Die Hauptkasten gliedern die Gesellschaft in Gelehrte und Priester, höhere Beamte, Bauern und Kaufleute sowie Diener und Handwerker. Darunter gibt es noch die Namenlosen oder Unberührbaren. Eheschließungen finden in der eigenen Kaste statt. Das Durchbrechen dieses Systems ist auch heute noch schwer. So gibt es in jedem Restaurant Leute, die die Bestellung aufnehmen dürfen, solche die das Essen servieren und solche, die danach reinigen. Der Unterschied ist deutlich an verschiedenen Kleidern zu erkennen. Für den Inder ist es offensichtlich nicht leicht, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen. Er wird sich maximal vom Waschen kleiner Teller zum Waschen großer Teller entwickeln dürfen, denn er gehört der unteren Kaste an.
Die Zugehörigkeit zu bestimmten Kasten hat mit dem Prinzip der Reinheit zu tun. Angehörige reiner Kasten halten sich von den unreinen Kasten, den Reinigungskräften, Wäschern und Müllmännern fern. Diese Trennung ist auf dem Lande leichter einzuhalten als in modernen Städten, wo die Grenzen zunehmend verwischen.
Ein in Indien noch nicht so erfahrener Freund, der kürzlich eine deutsche Firma in der Nähe von Delhi als Geschäftsführer übernommen hatte, konnte ähnliche Erfahrungen sammeln. Als er seinen Fahrer fragte, ob der ihm eine Glühbirne an einer nicht ohne Leiter zugänglichen Stelle im Haus wechseln könne, bekam er eine einleuchtende Antwort: “Mein Herr. Ich bin Fahrer und ich stamme aus einer Familie von Fahrern. Alle meine Brüder sind Fahrer. Wir wechseln keine Glühbirnen.“