Heute geht‘s nach Atata, einer kleinen Insel vor der Insel Tongatapu. Diesen Tagesausflug haben wir uns vom einzigen Reisebüro in Tonga organisieren lassen. Normalerweise wollten wir Wale und Haie beobachten.
Die Sommermonate Dezember, Januar und Februar sind dafür aber denkbar ungeeignet, da sich dann die Wale und größeren Fische in anderen Gefilden aufhalten. Von Atata könnten wir uns zum Schnorcheln zum Riff rausfahren lassen. Mal schauen.
Die Buchung im Reisebüro war etwas merkwürdig. Als wir nach der Abfahrtszeit für das Schiff fragten, bekamen wir keine direkte Antwort. Nach einigem Telefonieren fragte uns die Dame, ob uns 10:00 Uhr genehm wäre. Na klar doch. Dabei dachte ich noch, das das Schiff mehrmals am Tag fahren würde, einmal eben auch um zehn.
Jetzt stehen wir am Pier, wo mehrere Schiffe zur Abfahrt vorbereitet werden. In Singapore würden wir ein paar Schilder erwarten, die uns zeigen, wo das Schiff nach Atata abgeht. Hier gibt es keine Schilder. Auf einem recht großen Schiff werden gerade ein Container, einige LKW und viele Menschen verstaut.
Da versuchen wir es: „Geht das Schiff nach Atata?“
Nein, natürlich nicht. Wir versuchen es an einer Menschenmenge, die sicher irgendwohin möchte.
„Atata Island?“
Auch nicht. Irgendwie scheinen die auch Atata nicht zu kennen. Wir fragen noch ein bisschen rum, bis wir auf einen Mann stoßen, der etwas zu wissen scheint. Er weist auf ein wesentlich kleineres Schiff hin, das wohl nach Atata gehen soll.
Wir nähern uns dem Schiff, das etwa 20 Passagiere aufnehmen kann. Das ist natürlich nicht zu vergleichen mit der Fähre, die zwischen Singapore und Bintan verkehrt und vielleicht 300 Leute fasst. Von Singapore nach Bintan befinden wir uns immerhin an einer sehr ruhigen Meeresenge. Trotzdem macht uns die Fahrt manchmal zu schaffen. Hier sind wir mitten im Pazifik – in der Unwetterzeit. Na schaun mer mal.
Das Schiff lädt allerdings nicht zum Einsteigen ein, so dass wir noch einmal nachfragen: „Atata Island?“ Jemand auf dem Schiff weist über die Bordwand auf der anderen Seite. Wir sollen über das Schiff auf das nächste, wesentlich kleinere steigen. Als wir uns der Bordwand nähern, sehen wir ein Schiffchen, dass außen am Schiff festgemacht hat. Da steigen wir ein und nehmen Platz. Nach einer Weile kommt einer, der so etwas wie der Kapitän sein könnte. Seinem Aussehen nach zu urteilen hat er schon mehrere Wochen nicht geschlafen und gerade eine weitere durchzechte Nacht hinter sich.
Er weist uns freundlich aber bestimmt von seinem Boot. Ich frage, ob das Boot nicht nach Atata gehen würde? Da lacht er und deutet auf die seeseitige Bordwand. Diese Geste kennen wir jetzt schon. Sie bedeutet entweder „Da kannst Du hinschwimmen, Du taube Nuss“ oder auch „Schau mal, ob Du draußen noch ein Boot findest.“ Wir schauen nach. Ja, da ist noch ein Boot. Das Boot ist das kleinste, das ich jemals gesehen habe. Es ist wesentlich kleiner, als Heikes Auto. Nach der Frage, wo wir da sitzen sollen, geht mir die viel wichtigere Frage durch den Kopf „Damit auf den Pazifik?“ Scheiße. Es ist aber so. Von allen verfügbaren Wasserfahrzeugen im kleinen Hafen bekommen wir das winzigste Boot mit einem Außenbordmotor, um von Tongatapu nach Atata zu reisen.
Das Gute daran ist, das Boot ist eigens für uns geordert. Dann sehen wir unseren sehr jungen Kapitän in Badelatschen und Shorts – er ist unwesentlich älter als Luna – der freundlich lächelnd seinen Außenborder anwirft und in See sticht, ohne ein Wort zu sagen. „Stechen“ ist eigentlich der falsche Ausdruck. Obwohl der Motor volle Leistung bringt, schaukelt das Boot gewaltig auf den Wellen. Amy geht es seit dem Anblick des Bootes nicht gut. Alle paar Sekunden knallt das Boot hart auf die Wellen. Da der Junge keine Sicherheitseinweisung gemacht hat, gehe ich die in meinem Kopf durch: Funkanlage … scheint es nicht zu geben. Feuerlöscher … ist zwar vorgesehen. Aber an der Stelle, wo er sein sollte, baumeln die Halteriemen gelangweilt im scharfen Wind. Rettungswesten … könnte es geben. Im Bug des Bootes liegt ein Knäuel von orangenen Gegenständen, die sicher einmal Rettungswesten ähnlich sahen. Eine Autobatterie steht unweit von uns mit einem herunterhängenden Kabel. Das ist sicher zur Vermeidung von Überladung, beruhige ich mich selbst. Das wird nie damit enden, dass wir den Motor nicht mehr starten können. Niemals.
Mit einer Nussschale auf dem Pazifik. Na, danke auch.
Wie beim letzten Erlebnis dieser Art zwischen Inseln in Malaysia geht mir auch jetzt „Der Weiße Hai“ nicht aus dem Sinn. Allerdings gibt es da ein paar Unterschiede. Zum Ersten ist unser Boot wesentlich kleiner, als das im Weißen Hai. Zum Zweiten haben wir keinen Feuerlöscher, den ich im letzten Moment dem Hai ins Maul stoßen und darauf schießen könnte, so dass sich der Hai in seine Einzelteile zerlegt. Schießen geht natürlich gar nicht. Bleibt nur zu hoffen, dass die Wirklichkeit weniger gefährlich ist, als die Filmwelt.
Nach einer gefühlten nicht endenden Fahrt von vierzig Minuten machen wir an einer Insel fest, die zum Boot passt – sie ist ebenso winzig. Wir benötigen etwa eine Stunde, um von einem Ende zum anderen zu laufen. Die im kleinen Dorf auf der Insel lebenden Nachfahren von Freitag haben in den letzten hundert Jahren einige Fortschritte gemacht. Es gibt aus unerklärlichen Quellen Strom; es gibt einen kleinen, dunklen Schuppen, der als Shop bezeichnet wird; es gibt unendlich viele Schweine und Hunde, die frei herumlaufen und es gibt Wasser, Trinkwasser. Alle Menschen in Tonga und so auch hier sind sehr offen und grüßen immer mit einem freundlichen, ernst gemeinten Lächeln.
Dieses Dorf ist normalerweise Ausgangspunt für Tauch- und Schnorchelgänge zum nahe gelegenen Korallenriff, für Walbeobachtungsfahrten und für Sportfischer. Aufgrund der Jahreszeit ist zumindest die Walbeobachtung nicht möglich. Schnorcheln könnten wir schon, wenn die See etwas ruhiger wäre. Andeutungen für ein reges unterseeisches Leben sieht man überall. Am meisten beeindrucken die gewaltigen Muschelschalen, die massenweise herumliegen und außergewöhnliche Ausmaße haben. Auch das Gewicht ist er-heb-lich. Wir beschließen, im Winter, im Juli oder August, für eine Walfahrt zurückzukommen. Ich stelle mir diese interessanter vor als eine nach Lourdes.
Den ganzen Tag auf der Insel ist uns eine Sache nicht aus dem Sinn gegangen: wir sind auf einer Insel, die wir nur mit einem Boot verlassen können.
Der Eigner des Resorts auf der Insel, der uns sein Boot geschickt hatte, kommt uns freudestrahlend entgegen: „Wir haben ein größeres Boot für Euch!“
Klasse, denke ich. Kann aber kein anderes Boot erblicken.
„Wir machen gerade eine Probefahrt, da wir eben zwei neue Motoren eingebaut haben“, sagt er stolz.
Da sehen wir auch schon ein geringfügig größeres Boot, das sich der Anlegestelle nähert. Neben uns stehen zwei weitere Gäste, ein älteres Londoner Paar mit ordentlich Gepäck, das sich auf seiner letzten Tour um die Welt befindet. Nun verstehen wir auch, weshalb ein anderes Boot her muss. Unser kleines Teil vom Morgen war schon mit uns voll beladen.
Da ist nur eine Sache, die in meinem Unterbewusstsein etwas arbeitet: „neue Motoren“ und „Probefahrt“ sind Ausdrücke, die besser nicht im gleichen Satz wie „Wir fahren bei mittlerem Seegang über den Pazifik“ vorkommen. Tun sie aber. Auch der Londoner rollt mit den Augen. Aber da ist fast nichts, was wir tun können.
Die Fahrt beginnt sehr nett. Unser Boot ist voll beladen und liegt daher besser im Wasser. Beide Motoren verleihen dem Teil tatsächlich ganz guten Vorschub, so dass wir in weniger als einer Dreiviertelstunde am Ufer sein sollten. Vorbei geht’s an kleinen, unbewohnten Inseln, über ein Riff und eine größere Leere.
Nach etwa fünf Minuten lässt der Schub nach. Da ich das Cockpit, ein gehobeltes Brett mit zwei neu aussehenden Drehzahlmessern, im Blick habe, sehe ich einen davon auf null. Der Kapitän – der Junge in Badelatschen – zuckt mit den Schultern. Auf dieser Fahrt hat er zwei ältere Gehilfen an Bord bekommen. Starten und nochmal starten bringt nichts als ein lautes Warnsignal. Inzwischen ist der andere Motor merklich ruhiger geworden. Wir sind etwas beängstigt, dass der auch aufgeben könnte. Schließlich sind beide neu und beide eben eingebaut worden. Die harte Auswirkung eines Bootes ohne Motor ist der Verlust der Steuerung, so dass der Wind und die Wellen das Boot auch seitlich erwischen können. Das ist nicht nur im Bauch blöd.
Daher lassen die Jungs einen Motor immer etwas laufen, während sie am anderen rumbasteln – mitten auf dem Pazifik. Nach einer Weile springt der zweite wieder an. Klasse. Die Fahrt geht weiter. Bis fünf Minuten später der gleiche Motor wieder aufgibt. Nach endlosen Startversuchen nehmen sie die Verkleidung ab und basteln am Motor, während der andere neue Motor immer noch läuft. Irgendwie erinnert die Situation an den Weißen Hai. Auch der ältere Bootsgehilfe sieht aus wie Quint, der Kapitän im Weißen Hai. Der Unterschied ist, dass um diese Zeit keine Haie zu sehen sein sollten. Sicher?
Nach unendlichen Startversuchen und langem Basteln am Motor geben sie auf und verkünden „Sorry, der Motor ist überhitzt und kann nicht gestartet werden. Wir werden aber trotzdem das Land erreichen, nur ein bisschen später.“ Wir hoffen, das bekommen wir vor Sonnenuntergang hin, da sonst die Situation wirklich gruselig wirken würde.
Nach einer langen Fahrt, während der Amy nicht sehr gut ausgesehen hat und ich mir immer ausgemalt habe, wie wir uns an Land retten können, sehen wir den Königspalast in der Ferne, dann den Hafen und wir laufen ein.