Jedes Jahr am ersten Neujahrstag des Chinesischen Kalenders sind wir zu Amys Bruder eingeladen wie alle sieben anderen Geschwister auch. Ich freue mich schon immer auf den Hot Pot, ein großer Topf auf jedem Tisch, unter dem dauernd Feuer züngelt und daher die Brühe ständig am Kochen hält. In dem Hot Pot versammeln sich etwa alle Gerichte, die ich nicht mag. Da ist das Hühnchen, das ich liebevoll Traffic Accident nenne, da es wirklich wie nach einem Verkehrsunfall aussieht. Dann gibt es darin noch Seegurke. Die sieht etwa aus wie eine dicke verbrauchte Benzinleitung eines LKWs und schmeckt nach dem Fußbodenbelag im Führerhaus selbigen LKWs. Dann ist da die Abalone – eine Art Meeresschnecke – die etwa so schmeckt wie eingemachter Radiergummi. Dafür sind dann Taucher viele Meter in die Tiefe gegangen, um das Seeohr – so heißt das Teil – zu finden. Ich weiß nicht, ob noch niemand herausgefunden hat, dass das besch… schmeckt.
Für mich ist der Hot Pot etwa so attraktiv wie vor vielen Jahren die Wurstsuppe während Omas Schlachtfest. (Das klingt irreführend. Tatsächlich wurde ein Schwein geschlachtet.) Ich konnte nie verstehen, wieso mir mein Lehrer für das Schlachtfest einen unterrichtsfreien Samstag gestattet, wenn ich ihm dafür eine Kanne Wurstsuppe mitbringe. Ich fand das immer einen ausgezeichneten Handel – für mich.
Mittlerweile hat auch Amys Bruder entdeckt, dass ich nicht der Kenner dieser Art Speisen bin. Allerdings ist es Anstand, dass er mir eine teure Abalone auf den Teller bugsiert. (Eine kleine Dose mit Abalonen kommt schon auf 50 bis 100 Dollar. Davon werden viele gekauft.) Und es ist auch Anstand, dass ich das Teil irgendwie an meinen Geschmacksorganen vorbei in meinen Magen befördere. Habe ich auch gemacht. Da ich wegen der Textur dieses Seeohrs kein Bedürfnis verspüre, darauf herum zu kauen, bis es zwischen den Zähnen quietscht, müsste es eigentlich fast unbeschädigt erst im Magen landen und dann etwas später wieder zum Vorschein kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Magen irgendwelche Nährstoffe darin findet. Welche Nährstoffe hat ein Radiergummi?
Dieser Hot Pot – der heiße Topf – ist eins der Markenzeichen für gutes Essen in China und damit auch Singapore. In vielen Restaurants gibt es spezielle Tische mit einem Kocher in der Mitte, auf dem bei Bedarf der Hot Pot geparkt wird. Die ganze Angelegenheit ist nicht billig. Amys Bruder kauft die edlen Zutaten dafür an unterschiedlichen Orten in Singapore und Malaysia ein. Die besten Fischbälle kommen zum Beispiel aus einem kleinen Geschäft an der Autobahn zwischen Singapore und Malakka. Fischbälle sehen aus wie kleine Tischtennisbälle und haben so viel mit Fisch zu tun wie eine Plastiktüte mit einem Ölfeld. Die Dinger kann man essen – muss man aber nicht. Als Tischtennisbälle sind sie auch total unbrauchbar, da die sich an der Luft offenbar wesentlich schlechter fühlen, als in kochendem Wasser.
Natürlich hat der Hot Pot auch Zutaten, die meine Zunge mit etwas mehr Wohlwollen bearbeitet. so gibt es allerlei Gemüsearten, die nach dem kurzen Eintauchen in den Pot sehr angenehm würzig schmecken. Außerdem stehen feine Streifen von Schweine- oder Rindfleisch und auch gekochte Eier für den Pott bereit. Dazu gibt es immer ausreichend Getränke und allerlei Chips, Mais, Pickles und so weiter. Das Beste am Hot Pot ist allerdings nicht das Essen, sondern die Gesellschaft. Zum Hot Pot kommen wirklich alle. Bei unserer Verwandtschaft sind das immer so etwa 60 bis 80 Leute in drei Generationen, die das Chinesische Neujahr feiern und dabei viel Spaß haben.
Wenn Ihr wieder einmal nach Singapore kommen solltet, werden wir Euch auch mit einem Hot Pot verwöhnen. Versprochen!