Seit die Polynesier keine Menschen mehr essen, sind sie sehr nett zu den Überlebenden. Die Tongaer sind die freundlichsten Menschen, die ich je getroffen habe.
Das zeigt sich 24 Stunden am Tag. So wirst Du am Flughafen empfangen und so wirst Du auch wieder verabschiedet.
Bei der Einreise in die USA dagegen ist mir auch schon folgendes passiert:
“Wohin reisen sie weiter?”
“Bin auf dem Weg nach Detroit.”
“Was ist der Zweck ihrer Reise?”
“Habe bei einem Automobilunternehmen einen Workshop durchzuführen.”
“Können wir das nicht selber? Brauchen wir dafür einen aus Deutschland?” Bei der Einreise nach Tonga dagegen wie auch in viele andere zivilisierte Staaten hat man das Gefühl, dass man herzlich willkommen ist. Der Flughafen auf Tongatapu, ist noch etwas rustikal. Nach der Landung fährt der Flieger in die Richtung des Flughafengebäudes mit der Größe eines kleinen Postamtes und bleibt weit entfernt davon stehen. Bei der Abreise verstehe ich auch, wozu das gut ist. Es gibt keinen Schlepper für den Flieger. Um das Anschieben per Hand zu verhindern, wird der Flieger eben so geparkt, dass er von alleine anrollen kann. Dann kommt wie in guten, alten Tagen eine Treppe an den Flieger gefahren, von der aus man direkt zur Passkontrolle im Postamt läuft.
Ein freundlicher Beamter begrüßt jeden Reisenden mit einem Lächeln und einem “Herzlich Willkommen in Tonga”.
Auch die Gepäckverteilung geht sehr schnell, alles von Hand. Dabei muss man sich nicht sonderlich beeilen, da die Gefahr eines weiteren ankommenden Fliegers recht gering ist.
Am Abend nach der Ankunft und dem Auspacken der Zahnbürste gehen wir noch etwas durch das Dorf. Dabei werden wir vom ersten entgegenkommenden Fahrzeug bei heruntergelassener Scheibe mit Winken und Rufen begrüßt. Das ist so ungewöhnlich, dass ich sofort überprüfe, ob ich vielleicht meine Hose nicht geschlossen habe oder meine Haare unordentlich aussehen. Aber da gibt es nichts zu bemängeln. Alles tadellos.
Beim nächsten Fußgänger das gleiche. Auf dunkler Straße spät am Abend begrüßt der uns ebenfalls mit einem Lächeln. Das wiederholt sich so oft, dass wir dahinter System vermuten. Wahrscheinlich sind freundliche Touristen zarter im Kochtopf als mit Adrenalin vollgepumpte Stressopfer. Allerdings werden wir am ersten Abend noch verschont.
Unser Job funktioniert ohne Probleme. Nach zehn Tagen werden wir von den Herren unserer Gastgeber, dem Büro des Premierministers, zu einem Kava-Abend eingeladen. Die Frage nach den Frauen wird sehr seltsam beantwortet: “Damen nehmen daran traditionell nur zum Einschenken von Kava teil. Sie sollten dafür Jungfrau sein.” Sie trinken den selber nicht. Ich frage nach den Prozenten des Alkohols im Kava. Keine Prozente. Kein Alkohol. Ja, wie denn? Was ist es denn dann? Es ist ein Rauschgetränk. Wie wirkt sich der Rausch denn aus? Man fühlt sich etwas taub in den Muskeln. Das Gehirn allerdings bleibt hellwach. Beim Autofahren – wir werden danach nach Hause gefahren – könnte sich das so auswirken, dass zwar das Signal zum Bremsen vom Gehirn pünktlich abgesendet wird, aber der Fuß nicht immer das Pedal erwischt. Nach einer Tasse Kava fühlt sich der Gaumen wie nach einer anästhetischen Spritze beim Zahnarzt. Nach sechs Tassen Kava geht es mir immer noch perfekt. Man sagte mir, dass Kava die Beinmuskulatur einschläfern kann. Es passiert schon, dass Kavatrinker nach vielen Tassen nur noch wankend laufen können oder eben nicht mehr. Ab und zu stehe ich auf, um Gehversuche zu unternehmen. Alles ist soweit gut.
Kava wird aus der Wurzel eines nicht seltenen Baumes ohne jegliche Zutaten mit Wasser gekocht und kalt als milchige, etwas bitter schmeckende Brühe serviert. Kava gibt es nur in Polynesien, wird gesagt.
Kavatrinken ist keine Sauferei, sondern eine religiöse Angelegenheit.
Die Kirchen in Tonga führen Herrenabende mit Kava durch. Ein Mitarbeiter des Ministeriums sagt uns, dass er sich die ganze Woche auf seinen Kavaabend am Freitag freut, der oft mit Gesang begleitet wird und bis zum Morgen dauern kann.
Ein paar hundert Jahre früher wurde der Kava sicher den menschlichen Koteletts gereicht, um sie milde zu stimmen und die Gegenwehr im Keim zu ersticken, bevor sie am Spieß über dem Feuer geröstet wurden.
Nach meinen sechs Tassen Kava kann ich noch gut aufrecht laufen und mein Verstand ist so helle – oder dunkel – wie immer. Am nächsten Morgen flüstert mir Saia, der Kavamacher, jedoch zu, dass er Anweisung vom Boss gehabt hat, den Kava für mich zu verdünnen. Also hat das Zeug doch irgendwelche Auswirkungen.
Singapore hat knallharte Antidrogengesetze. Für mehr als 15 Gramm gibt es den Galgen. Das ist Gesetz und kann nicht gemildert werden. Daher kaufen wir keinen Kava für zu Hause. Wir müssen ja nicht unser Leben verschenken, nachdem wir bei den Menschenfressern davongekommen sind.
Jeden Tag werden wir durch das Ministerium vom Hotel abgeholt und auch wieder zurückgefahren. Am Wochenende laufen wir die kurze Strecke bis zum Zentrum – das ist etwas mehr als ein Kilometer – vorbei am Wohnhaus einer Prinzessin und am Palast des Königs. Am Samstag ist es aufgrund der Zyklonperiode ziemlich regnerisch. Die Sonne scheint nicht. Trotzdem habe ich am Abend einen satten Sonnenbrand auf dem Kopf und im Gesicht. Offensichtlich ist die Ozondecke hier sehr dünn. Wahrscheinlich wurde bei den Kannibalen übermäßig mit Sprays gewürzt, so dass die Ozonschicht darunter litt, schlussfolgern wir.
Am Tag der Abreise ist es richtig Sommer mit voller Sonne. Daher geht es nur mit Kopfbedeckung raus. Auf dem Heimweg schmelzen wir unter der Mittagshitze dahin. Obwohl der Weg wirklich nicht lang ist, stoppt ein Wagen neben uns und der Fahrer gebietet uns nachdrücklich, bitte einzusteigen. Entweder will er heute noch eine gute Tat vollbringen, oder er sucht noch etwas für den Sonntagsbraten.
Etwas zögernd steigen wir ins Fahrzeug ein. Vor etwa dreißig Jahren war das mal ein Toyota. Jetzt ist er stark modifiziert. Die Sicherheitssysteme sind beeindruckend. Da ist die Fahrertür, die den Fahrer vor unbefugtem Zugriff schützt, da sie sich nur mit einer Geheimkombination aus Schlägen, Tritten und Hebeln am Griff öffnen lässt. Die anderen Türen sind ähnlich modifiziert worden. Eine hintere Tür lässt sich nicht mehr öffnen – sicher zum Schutz der Kinder. Der Beifahrersitz dient wahrscheinlich als Sessel im Haus des Fahrers. Im Auto hätte er nur störend gewirkt. Stattdessen liegt da eine alte Tasche, die wahrscheinlich Erste-Hilfe-Satz und Sicherheitsausstattung beinhaltet. Darunter befinden sich allerlei Kabel, Lappen, Decken, Getränkedosen und Zeitungen, die auf einer längeren Reise sehr nützlich sein können. Der Wagenhimmel ist zum Schutz vor Ungeziefer sehr gleichmäßig mit einer graubraunen, klebrigen Schicht überzogen, so dass es Insekten schwer haben dürften, dort zu überleben.
Das Design des Lenkrads weckt mein Interesse. Das Äußere suggeriert ein Lenkrad aus den guten, alten Tagen, als ein Airbag noch ein Luftsack war. Ich werde wohl nie heraus bekommen, wie der moderne Airbag in diesem Design Platz findet. Auch der Schnitt der Reifenprofile ist der Situation in Tonga angepasst. Da es sehr, sehr unwahrscheinlich ist, mit dem Wagen in Tonga in eine Schneewehe zu geraten, fährt unser Retter – wie viele andere auch – ein Profil der Marke Babypo. Die Oberfläche der Reifen ist perfekt glatt zum Vorteil von Straße und Portemonnaie. Die oftmals überhitzte Straße wird nicht durch hässliche Profilspuren verunziert und der Geldbeutel wird durch Reibungs- und damit Verbrauchsminimierung geschont. Nach den Gesetzen der Physik ist damit das Bremsen etwas beeinträchtigt. Aber – wer vorausschauend fährt, muss nicht bremsen. Wahrscheinlich wird in Tonga beim Bremsen ein Anker geworfen.
Noch eine Richtigstellung für alle Daniel-Defoe-Leser: Wenn Robinson Crusoe von Europa aus nach Westen gereist war und danach tatsächlich auf einer polynesischen Insel im Südpazifik festsaß, ist es sehr wahrscheinlich, dass er dabei die Datumslinie überquert hatte und Freitag eigentlich Samstag heißen müsste.
Freilich war die Datumslinie damals nicht so gut im Meer sichtbar. Besonders nachts wurde diese unbemerkt überfahren, so dass schon mal ein Fehler unterlaufen konnte.