Angekommen in Narita werde ich vom Flughafen abgeholt und nach Yokohama gefahren, um eine Woche für den TÜV-Rheinland in Tokio zu arbeiten. Natürlich wäre es sinnvoller, direkt in Tokio zu wohnen. Allerdings stehen dagegen die Hotelpreise in der Hauptstadt. Für ein Zimmer von der Größe einer kleinen Besenkammer bezahlt man hier etwa so viel, wie für eine ausgewachsene Suite in Singapur. Die Preise für Wohnraum und andere Räumlichkeiten sind ähnlich. Daher gibt es hier nur die Erlaubnis für den Kauf eines Wagens, wenn der Nachweis eines Parkplatzes vorgelegt werden kann. Das kann der reservierte und teuer erkaufte Parkplatz an der Straße vorm Haus sein. In einem Gebiet von weniger als Thüringen drängen sich hier etwa 35 Millionen Menschen. Das hat seine Auswirkungen.
Nach der Ankunft im Hotel in Yokohama richte ich mich häuslich ein, parke meine Zahnbürste im Glas und meinen Anzug im Kleiderschrank. Dann wandere ich durch die Nachbarschaft des Hotels. Da gibt es eigentlich nichts zu betrachten außer jeder Menge Beton und einem kleinen Park. In Japan ist alles ziemlich klein.
Zum Abendessen bin ich von einem deutschen Kollegen, Herrn Klose, und dessen japanischer Frau eingeladen worden. Es ist ziemlich warm, ähnlich wie in Südostasien. Trotzdem bin ich bei meiner Kleiderwahl eher vorsichtig. In Japan sind die Sitten etwas steif, und ich will nicht unbedingt der einzige Gast im Restaurant sein, der kurze Hosen oder sogar Lewis-Jeans trägt. Überhaupt ist alles US-Amerikanische hier nicht so gut angesehen wie in anderen Teilen Asiens. Als Deutscher ist man „wer“. Die Japaner fahren entweder deutsche Wagen oder eben japanische. Es ist hier sehr schwer, amerikanische oder koreanische Wagen auf der Straße zu finden.
Als ich mich mit Herrn Klose an der Hotelrezeption treffe, sehe ich keine Frau. Er hat wohl den Plan geändert, denke ich. Nach einer Weile frage ich ihn, ob er denn Kinder hat. Er meint, wir könnten das beim Essen mit seiner Frau besprechen. Sie wird gerne darüber berichten. Jetzt bin ich etwas verdutzt – und er kann das wohl auch sehen. Herr Klose bedeutet mir, dass seine Frau uns in einigem Abstand folgt. Tatsächlich. Aus der Entfernung lächelt uns eine traditionell japanisch gekleidete, hübsche junge Dame an. Die Erklärung ist einfach: nach japanischer Sitte ist es nicht schicklich für die Frau, mit den Herren gemeinsam zu gehen. Sie hat zu folgen. Sie will das so und er kann das nicht ändern, ohne sie in eine unbehagliche Situation zu bringen. Er hat es aufgegeben.
Wow. Da ist die Rollenverteilung noch klar.
Japan liegt eben in einem anderen Teil dieser Welt. Das bemerke ich auch an der Anrede. In Amerika und fast ganz Asien treffe ich Peter, Frank und Michael. Nur in Japan treffe ich Herrn Klose, Herrn Kano oder Herrn Ota.
Bevor wir am nächsten Tag mit der Arbeit beginnen, werde ich zum TÜV-Büro in Tokio gebracht, das sich in einem Hochhaus im Zentrum befindet, in dem der TÜV-Rheinland einige obere Etagen gemietet hat. Von hier aus herrscht man über die asiatischen Niederlassungen. Ich bin im Gespräch mit einigen Deutschen, als plötzlich der Boden unter meinen Füßen zu schwanken beginnt. Dafür bin ich schon immer sehr sensibel. Wenn meine Tochter dreizehn Mal auf der Phantasialand-Achterbahn ihre Runden dreht, stehe ich normalerweise unten und schaue weg … Eis essend. Meine Kollegen scheinen das Schwanken nicht bemerkt zu haben, allerdings sehen sie meine Reaktion und lächeln. Dann erklären sie. „Das haben wir jeden Tag. In Tokio ist der Boden ständig in Bewegung. Im Hochhaus wird das Schwanken noch verstärkt, so dass es manchmal unangenehm ist. Das ist nicht gefährlich.“ Nach ein paar höflichen Gesprächen mache ich mich aus dem Staub. Das muss ich nicht haben, denke ich.
Dann beginnt der Job. Die TÜV-Kollegen haben mich gefragt, ob ich denn gerne einen Dolmetscher hätte. Natürlich habe ich ja gesagt, weshalb ich zwei zierliche Japanerinnen im Trainingsraum vorfinde. Ich freue mich, dass ich mit den beiden Mädchen eine Woche zubringen darf. Sie sind schlank, adrett gekleidet mit perfekt durch kleine farbige Stäbchen hochgestecktem tiefschwarzem Haar und tragen eine tadellose Schminke – wie im japanischen Film. Ich wundere mich, dass sie mich nicht Deutsch, sondern Englisch ansprechen. Überraschung! Meine deutschen Kollegen haben mir Dolmetscher besorgt, die vom Englischen ins Japanische übersetzen. Wie clever, denke ich. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit den beiden Mädchen auch freiwillig arbeiten würde, wenn sie nur Suaheli verständen.
Ein halber Tag vergeht ohne besondere Vorkommnisse, bis es zu einer Diskussion kommt. Ich stelle einige Fragen, um zu überprüfen, wie meine Teilnehmer meine Darlegungen verstehen. Die Antworten sind teilweise exzellent. Mit einer Antwort bin ich nicht ganz einverstanden und sage das auch. Ich korrigiere den Teilnehmer, warte auf die Übersetzung und warte, bis … bis … bis die Übersetzung zum Ende kommt. Meine Antwort war nur ein Satz. Die Übersetzung hat dagegen mehr als fünf Minuten in Anspruch genommen. Und ich bemerke, dass etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. In der von meinen beiden Schönheiten einberufenen Pause werde ich zwar höflich aber sehr bestimmt darauf hingewiesen, dass ich unheimlich unerzogen bin. Ja, was. Wieso? Was habe ich denn gemacht?
Im Raum sitzen zum Teil wichtige Personen aus namhaften Firmen wie Toshiba, Mitsui, Sony etc. Und ich hatte einen dieser Teilnehmer, einen offenbar ziemlich wichtigen älteren Herren, vor den Augen seiner Kollegen korrigiert, hatte ihn blamiert. Das macht man nicht. Schon gar nicht, wenn er älter ist als ich. Die Dolmetscher hatten alle Hände voll zu tun, die Teilnehmer vom Nach-Hause-Gehen abzuhalten. Früher hätten mich die Samurai für mein Verhalten in Schaschlik verarbeitet. Oder aber der Blamierte hätte Harakiri begangen, was so etwas bedeutet wie Selbst-Herausnehmen-der-Eingeweide-bei-lebendigem-Leibe. Gott-sei-Dank duschen die Japaner heutzutage eher warm, wie jeder andere auch.
Fortan bin ich sehr, sehr vorsichtig beim Umgang mit meinen Teilnehmern und Kunden in Japan. „Falsch!“ gibt es nicht. Eine Scheißantwort wird sehr vorsichtig korrigiert wie „Gut. Richtig. Danke sehr. Man könnte das unter bestimmten Umständen auch aus einer anderen Perspektive sehen…“ Ich muss meine Antworten kodieren.
Auf dem morgendlichen Weg von Yokohama nach Tokio nehme ich die U-Bahn – gemeinsam mit vielen Millionen Japanern. Das ist ein Erlebnis. Man stelle sich eine vollbesetzte U-Bahn in Berlin-Ostbahnhof vor, nehme noch einmal so viele Passagiere und presse sie in den gleichen Zug. Nach dem japanischen Verständnis wäre der Zug dann immer noch halb leer, und die Schaffner würden anstelle Karten zu kontrollieren mit voller Kraft von außen noch mehr Fahrgäste hineinpressen. Das ist kein Witz! Ich habe es erlebt. In meinen Rippen ist noch der Abdruck der Hand eines Schaffners.
Am Samstag wird die Fahrt von Yokohama zum Flughafen am sehr frühen Morgen im Bus erledigt. Für das Frühaufstehen werde ich mit einem atemberaubenden Blick auf den Fuji in der Morgensonne belohnt (leider kein eigenes Bild).
Nach einer Woche Arbeit mit meinen Kunden habe ich unheimlich viel über eine andere Kultur gelernt, habe viele Dinge gegessen, von denen ich bisher gar nicht wusste, dass es die gibt und habe dabei auch einiges über mich selbst erfahren. Mir ist wieder einmal bewusst geworden, dass man sich in einer fremden Kultur auch als erwachsener Mensch dumm wie ein Kleinkind benimmt, wenn man nicht genügend Anstand hat, sich damit zu beschäftigen, bevor man auf den Flieger springt. Jetzt bin ich etwas vorsichtiger, wesentlich toleranter und auch etwas klüger – aus meiner Sicht.