Wieder befinden wir uns inmitten einer guten Sammlung von Tsingtao-Flaschen in einem abgetrennten Raum unseres Lieblingsrestaurants im Stadtteil Bao Shan, dem Schatzhügel von Shanghai. Bao Shan ist der Sitz des größten Stahlwerkes von China, Bao Steel. Seit mehreren Monaten pendle ich jede zweite Woche oder so nach Shanghai, um dem Stahlkocher zu besserem Stahl zu verhelfen. Da sich mein Wissen über Stahl auf zwei Bierdeckeln unterbringen lässt, arbeite ich dabei mit meinen chinesischen Kollegen und eben mit den Bao-Leuten zusammen.
Nun sitzen wir wieder einmal Seite an Seite und feiern eine Woche Arbeit am Stahl. Interessanterweise gibt es hier ausreichend Stahlkocherinnen, die nicht nur im Stahl, sondern auch im Bierkonsum von deutschem Know-How profitieren. Neben den Damen sehe ich regelmäßig sehr alt aus, da ich in Singapore eher kein Bier trinke und dadurch bei jeglicher Berührung mit Alkohol sofort reagiere. Gerade dachte ich, dass ich mit meiner Begabung als Alkoholsensor beim Zoll arbeiten könnte. Wann immer ich dummes Zeug erzähle, hat wahrscheinlich ein passierender Flugreisender Alkohol im Koffer.
Wenn Du jetzt annimmst, dass in einem Stahlwerk in China nur Zwei-Zentner-Damen arbeiten, mit denen Du neben dem Anteil am Mangan im Edelstahl nichts ansprechen möchtest, muss ich Dich berichtigen. Die jungen Damen aus der Entwicklungsabteilung sind zierlich, hübsch und total adrett gekleidet. Mit einigen der Damen würde ich auch meine Briefmarkensammlung ansehen … wenn ich denn eine hätte. … und wenn ich mich nicht regelmäßig überaus früh und sehr gebeutelt in mein Hotelzimmer nahe des Stahlwerkes zurückziehen müsste. Dahinter steckt Strategie: jede der Damen und natürlich auch jeder der Herren möchte gerne mit mir anstoßen. Es ist sehr unhöflich, das nicht zu erwidern. Und es ist auch unhöflich, nicht einen ordentlichen Zug aus dem Glas zu nehmen. Besser noch trinkst Du es leer. Das hat zwei Vorteile. Erstens muss der andere auch austrinken, was Dir etwas Zeit verschafft. Zweitens gehst Du dann eher als richtiger Deutscher durch. Die Kollegen aus Bao Steel bestellen nicht umsonst Tsingtao-Bier, das nach deutschem Rezept in ehemals deutschen Brauereien im Nordosten von China hergestellt wird.
Auf dem Boden stehen etwa dreißig oder vierzig Flaschen Leergut und wir sind noch voll „bei der Sache“. Das klingt viel, ist aber auf acht Personen verteilt, so dass der Effekt noch auf sich warten lässt … bei den anderen.
Auch wenn wir Deutschen immer noch etwas auf die Chinesen herabblicken und deren Kultur nur bedingt verstehen, fühle ich mich hier ziemlich wohl – wie eigentlich überall in Asien. Die Kollegen sind sehr nett, hochintelligent, arbeitsamer als viele Europäer und absolut teamfähig. Wir arbeiten immer mit einer Gruppe. Der junge, in den Staaten ausgebildete Entwicklungsleiter hat den Laden mit sehr netter Hand im Griff. Oft sitzen wir bis abends nach acht oder neun am Projekt zusammen, nachdem wir gemeinsam Abendessen hatten. Alles passiert in Englisch, da mein Chinesisch immer noch sehr überschaubar ist. Hoffnungslos. Bevor ich ausreichend Chinesisch spreche, hat ganz China das große Latinum drauf.
Vor einiger Zeit hatte ich Anlauf genommen, mein Chinesisch aufzubessern. Dazu hatte ich eine Peking-Chinesin in Singapore nach Hause kommen lassen. Mit ihr hatte ich gute Fortschritte erzielt, da sie kein Englisch verstand. Obwohl ich der Meinung war, dass meine junge Chinesin einen guten Job gemacht hatte, wurde sie von Amy ausgetauscht. Sie sei zu hübsch gewesen. Das stimmt. Allerdings korreliert für mich die Attraktivität einer Sprache und damit der Lernerfolg mit der Attraktivität der Lehrerin. Der nächste von Amy bestellte Chinesisch-Lehrer hatte das Gewicht eines jungen Pottwals, roch immer nach irgendwelchen Speisen von vorgestern und hatte Füße in der Größe eines Fischerbootes. Die Sache mit den Füßen wurde offensichtlich, als ich seine vor der Tür abgestellten Sandalen ausrichten wollte aber das ohne Flaschenzug kaum bewerkstelligen konnte. Daneben sahen Amys Schuhe sehr verlassen aus. Es dauerte etwa drei Lerneinheiten, bis ich die Sache beenden musste, da Bud Spencer beim Chinesisch pauken immer näher rückte, so dass wir bei der letzten Lektion quasi auf Tuchfühlung saßen. Noch eine Sitzung und er hätte auf meinem Schoss eingeparkt. Huuh.
Unsere Tätigkeit bei Bao ist etwas Besonderes. Nicht nur, weil wir damit an den Voraussetzungen für eine funkelnagelneue, etwa einen Kilometer lange Walzstraße arbeiten dürfen, sondern auch, weil es um Elektrostahl geht. (Das ist der Stahl, der früher in dünnen Scheiben im Trafo Deiner Modelleisenbahn zu finden war.) Mit dem neuen Verfahren will sich Bao an die Weltspitze katapultieren. Wenn ich sehe, wie die Kollegen daran arbeiten, bin ich recht sicher, dass das klappen wird. Das alles macht das Projekt zu einer Art Geheimprojekt. Das zeigt sich darin, das wir weder Aufzeichnungen machen, noch unsere Computer benutzen, noch irgendwelche Speicher einsetzten dürfen. Nach einer Woche Arbeit am Projekt verlassen wir das Unternehmen ohne eine Zeile Mitschrift. Das hat einen Riesenvorteil: ich empfange keine Emails aus China mit Fragen zum Projekt. Es gibt quasi keine Kommunikation zwischen den Treffen. Eine sehr gute Einrichtung.
Natürlich werden wir von Bao zu allerlei Kultur eingeladen. Einen Karaoke-Abend hatten wir schon absolviert. Das ist nicht mein Ding. Ich lasse dann eher singen. Einige Massagen gab es auch schon. Die allererste Massage nannte sich Fußmassage, war aber eher etwas wie eine mittelalterliche Foltermethode für untreue Ehepartner oder so. Nachdem die Füße in Wasser mit der gefühlten Temperatur von flüssigem Eisen eingeweicht worden sind, werden sie von einer zierlichen Dame so hart durchgeknetet, dass dir Hören und Sehen vergehen. Dabei fragt sie regelmäßig, ob das gut ist. Da ich kein Weichei bin, grinse ich gequält und winsele „hen hao“, wonach sie noch härter zupackt. Gerade hatte ich ja „sehr gut“ gesagt. Diese Massagen sind nicht billig und sehr geläufig als Geschenke an Langnasen. Das Beste an einigen dieser Massagen ist das Nachlassen des Schmerzes.
Vor ein paar Wochen hatten uns unsere Kollegen ins Zentrum von Shanghai geschleppt, um eine Opernvorstellung der weltbekannten Maskenkünstler zu bewundern. Das ist tatsächlich außergewöhnlich. Die stark geschminkten Künstler spielen ein Stück auf der Bühne wie bei jeder anderen Oper. Das Besondere ist dabei, dass die Künstler wahrscheinlich aufgrund eines permanenten Mangels an Schauspielern anstatt den nächsten Künstler auf die Bühne zu lassen, selbst in eine andere Rolle schlüpfen. Das Ganze passiert beim schnellen Drehen um die eigene Achse, wobei die Hand kurz über das Gesicht wischt, wonach ein völlig anderes Gesicht auf der Bühne steht. Das passiert nicht einmal oder zweimal, sondern mehrere Male. Es ist tatsächlich unglaublich, wie das geht. Die Chinesen sagen, dass die Maskenkünstler sehr viele hautähnliche mit Make-up ausgestattete Schichten auf dem Gesicht tragen, die nacheinander abgenommen werden. Das ist absolut nicht sichtbar. Der Wechsel passiert in viel weniger als einer Sekunde mit dem Wischen der Hand vorm Gesicht.
Erst dachte ich, dass die Chinesen diese Technik von deutschen Politikern abgekupfert hätten. Mittlerweile muss ich revidieren. Unsere Politiker brauchen für den Wechsel der Maske geringfügig länger.