Peking – so und so

Chinesische Mauer bei Beijing
Chinesische Mauer bei Beijing

Mein Hotel liegt in einem Industriegebiet direkt am Badaling-Highway, der im Norden von Peking an der Mauer vorbei führt und in das Tal des Todes mündet. Tal des Todes wird der Autobahnabschnitt genannt, weil es hier auf der stark abfallenden Strasse beim Einfahren in die Hauptstadt unzählige Verkehrstote gegeben hat und immer noch gibt. Diese Autobahn des Todes mündet in die Autobahnringe, von denen es im Moment sechs und bald sieben gibt, die sich im Abstand von ein paar bis zu 30 Kilometern zum Stadtzentrum um die Hauptstadt Chinas ziehen. Die Größe Pekings wird deutlich, wenn man die Hauptstadt auf der sechsten Ringstrasse mit einer Laenge von ueber 200 km umrundet. Sie bildet im Moment die Grenze von Peking.

Überall in China entstehen moderne Industriegebiete, die in die Mitte von Nirgendwo gebaut werden. Oftmals steht das Gebiet, während die Strasse noch im Bau ist und auch Hotels kaum existieren. Meist gibt es nebenan auch noch keine Wohnungen, so dass die Gegend nach Feierabend gegen acht, neun oder zehn total verwaist.

In dem einzigen Hotel in diesem Industriegebiet wohne ich für eine Woche. Das Hotel hat einen halben Stern oder so. In China sind diese Sterne nicht wichtig. Manchmal lande ich in einem Vier-Sterne-Hotel, das in der westlichen Welt nicht mal einen Marienkaefer gewinnen würde. Das Halb-Sterne-Hotel heute ist ok. Es ist so neu, dass noch nicht einmal die Nachbarn von dem Hotel wissen. Der Taxifahrer hatte auch seine Probleme. Vorne werden Gäste empfangen, waehrend hinten noch verputzt wird. Die Dame an der Rezeption lernt gerade, wie man mit Gästen wie mir umgeht, die kein Chinesisch sprechen. Bei meinem Eintreten verlässt sie fluchtartig die Rezeption nach hinten, um den englischsprechenden Kollegen zu holen. Der stopft sich bei seinem Auftritt noch das Hemd in die Hose.

Der englischsprechende Kollege spricht eigentlich kein Englisch. Wahrscheinlich hat er in seinem Lebenslauf Englisch als Fähigkeit erwähnt, wonach er ohne Überprüfung eingestellt wurde. Sicher hat er mal einen englischen Film gesehen, denn er kann ganz gut „Yes“ und „Well“ sagen. Gott-sei-Dank ist es überall auf der Welt ähnlich: wenn Leute in ein Hotel gehen, wollen sie weder Lebensmittel kaufen, noch Unterwäsche mieten. Sie wollen meist ein Zimmer. Das kann man auch ohne viel Reden klarmachen. Kein Problem also.

Die Kreditkartenleser sind auch noch nicht angeschlossen, so dass mich die beiden beim Präsentieren einer Visa ganz unwillig anschauen. Dieses Spiel kenne ich schon, so dass ich immer ein Bündel Banknoten dabei habe. Zuerst versuche ich es mit meiner Bank-of-China-Karte. Da hellen sich die Gesichter plötzlich auf. Nun bin ich akzeptiert. Toll.

Dann versuche ich noch, ein Nichtraucherzimmer mit Internetanschluss zu bekommen. Internet? Kleinigkeit. Nichtraucher? Das Nichtraucherzimmer ist wohl gerade belegt. In China ist die Frage nach einem Nichtraucherzimmer sehr wichtig, da einige Gaeste offensichtlich Raucherparties im Raum feiern. Fein konserviert durch die Klimaanlage werden alle im Raum befindlichen Gegenstaende einschliesslich Wand und Decke mit einem unsichtbaren Ich-war-schon-mal-hier Film ueberzogen. Hunde pinkeln zu diesem Zweck an die Strassenlaterne. Da Menschen mit einem wesentlich schlechteren Geruchssinn ausgestattet sind, muss folglich die Geruchsmarke viel stärker sein. Ist sie auch. Dazu kommt, dass der Ich-war-schon-mal-hier Film nach einiger Zeit gelbbraune Farbe bekommt.

Noch ein kultureller Unterschied ist erwähnenswert: In Europa nehme ich mein Gepäck selbst und gehe zum Zimmer. In China mache ich das besser nicht. Leute, die ihr Gepäck selber tragen, gehören zum Fußvolk, eben zu den Gepäckträgern. Daher warte ich, bis mein Gepäcktrager kommt. Auch heute, wie schon oftmals vorher, kommt ein zierliches Mädchen und schnappt mein Gepäck, während ihre männlichen Kollegen zusehen mit einem Blick wie „Mal sehen, ob sie wieder unter dem Koffer zusammenbricht.“ Da ich alleine reise, ist mein Koffer federleicht. Es muss sehr seltsam aussehen, wenn ich als ausgewachsene deutsche Eiche gelangweilt zum Fahrstuhl gehe, während hinter mir ein kleines Mädchen in Koffergröße mit einem Drittel meines Körpergewichts mit verzogener Miene auf halbhohen Absatzschuhen an meinem Koffer zerrt. Nach dem Fahrstuhl nehme ich ihr den Koffer ab, wonach sie mir mein Zimmer zeigt.

Im einzigen Restaurant des Hotels gibt es keine fuer mich lesbare Speisekarte und die Damen der Bedienung sprechen natuerlich kein Englisch. Also bestelle ich zum Abendessen einfach irgendwas von der Karte. Die Trefferquote wird mit jedem Tag besser. Am Ende der Woche habe ich herausgefunden, welche Speisen keine Huehnerfuesse, Schweineinnereien, Seegurken oder aehnliches beinhalten, so dass ich ohne Risiko bestellen kann.

Am Abend gehe ich dann noch eine Runde um das Hotel. Das ist nicht leicht, da die Wege am Ende des Industriegebietes von feinem Beton mit viel Gruenanlagen und ein paar Skulpturen dazwischen ploetzlich in Feldwege uebergehen. Nach ein paar hundert Metern Feldweg komme ich an eine bewohnte Gegend. Ich fuehle mich um die 80 Jahre in der Zeit zurueck versetzt. Alle Huetten sind aus etwas Stein, Holz, Dachpappe und Wellblech zusammengebastelt. In diesen Huetten haette ich keine Menschen, sondern eher Tiere vermutet. Es gibt elektrisches Licht und es gibt immer einen Fernseher. Im „Supermarkt“ steht ein Stand mit ein paar Lebensmitteln am Eingang, dahinter zwei weitere Regale mit Dingen des taeglichen Bedarfs. Dahinter stehen ein Bett und ein Fernseher. Das ist die Wohnung mit Gewerbeeinheit. Im Bett liegt schon jemand und schaut fern, so dass ich mich wundere, wo denn der zweite Bewohner schlafen sollte. Unter dem Bett ist noch ein Bett. Und irgendwo sind wohl noch ein paar Betten versteckt, da ploetzlich noch eine steinalte Dame und ein Kleinkind auftauchen.

Der Boden im Haus ist naturbelassen, das heisst, es gibt weder Fliessen, noch Belag, sondern einen sehr groben Beton. Ich stelle mir vor, dass die Bewohner sehr wackelig auf dem Boden laufen muessen. Sicher wird in Zukunft jemand ein paar von den ueberall draussen herumliegenden Brettern auf dem Boden ausbreiten und damit die Grundlage fuer die Erfindung von Dielen schaffen.

Die Waende sind unverputzt und die Kochstelle mit viel Russ verziert. An den Waenden haengen allerlei Poster von Gruppen, die sicher vor hundert Jahren mal bekannt gewesen sind. Da haengt auch ein Schumacher im Formel 1 Auto. Also sehr veraltete Poster. Zwischen den Postern sieht man die rohe Wand. Wahrscheinlich wird in ferner Zukunft mal jemand feststellen, dass beim Ueberlappen der Poster die haesslichen Stellen auf der Wand verschwinden. Wir nennen das Ergebnis dieser Ueberlegung „Tapete“.

Im „Supermarkt“ ist es leicht, die meist gekauften Waren von den Ladenhuetern zu unterscheiden. Dazu braucht es in China kein Warenwirtschaftssystem. Ein Blick auf die Staubschicht im Regal genuegt um festzustellen, dass Schokolade keiner braucht, waehrend Zigaretten quasi gar nicht zum liegen kommen. Nach dem Wegwischen des Staubs von der Schokolade wird auch offensichtlich, dass diese fast so alt ist wie die Chinesische Mauer.

Natuerlich werde ich beim Laufen durch das kleine Dorf in der Hauptstadt betrachtet wie ein bunter Hund, waehrend sich nur 200m Meter weiter kein Schwein fuer mich interessiert. Die einzige Verbindung zwischen beiden Welten ist sicher die Taetigkeit der Kinder. Waehrend im Dorf quasi keine jungen Leute existieren, gibt es die Jungen und Maedchen im Hotel oder in Firmen im Industriegebiet.

So ist das. Waehrend viele der Alten noch in der Zeit von Mao leben und sich an Kleinigkeiten wie einem Farbfernseher erfreuen, leben die Jungen im harten Kapitalismus, machen richtig Kohle und vergessen oft ihre Wurzeln. Nicht immer, aber immer oefter.

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