Diejenigen unter Euch, die sich – wie mein Bruder – beim halben Ablaufen unserer Ostküste schon einmal einen richtig satten Sonnenbrand geholt haben, können die Länge der Strecke richtig einschätzen. Wenn Dir dann jemand sagt, dass Du nicht die halbe, sondern die volle Strecke zweimal ablaufen musst, magst Du das überhaupt nicht.
Wenn Du dieses Vorhaben erst anpackst, nachdem Du in der Stadt schon zehn Kilometer gelaufen bist, frustriert Dich das total. Und wenn Du dann die Stadt und zweimal die Ostküste erledigt hast, musst Du wieder zurück in die Stadt, um Gardens by the Bay herum, vorbei am Hotel, auf die Autobahn, zurück zum Riesenrad und dann an der Esplanade über die Brücke vorm Fullerton zum Ziel.
Wirklich ernüchternd wird es, wenn Du nach etwa zehn Kilometern in die Ostküste einbiegst und Dir die Läufer aus Kenia mit etwa dreißig Kilometern unter den Schuhen entgegen kommen. Und das machen die in einer Geschwindigkeit, die ich nur nach einem schlechten Apfelmus auf dem Weg zur Toilette schaffe.
Du denkst dabei, dass die bereits frisch geduscht im Flieger nach Hause sitzen, wenn Du durch das Ziel läufst. Der Gedanke, dass Kenianer gut im Training stehen, da sie normalerweise mit nackten Füßen den Löwen aus den Fängen rennen müssen, tröstet dabei nur wenig.
Genau diese Gedanken hatte ich am Sonntag auf meinem vierten Marathon in Singapore. Das ist vergleichbar mit der Strecke Saalfeld – Apolda.
Am Start um fünf bin ich normalerweise wie alle anderen auch noch sehr optimistisch und voller Tatendrang. Die ersten Kilometer geht es dann auch hurtig von den Füßen mit einem gewissen Stolz, da ja nicht jeder einen Marathon läuft. Dass ich da mit über fünfzig einer eher seltenen Kategorie angehöre, hilft dem Selbstbewusstsein zusätzlich. Nach jeweils zwei bis drei Kilometern gibt es Trinkstationen, so dass man wirklich nicht dehydriert sein muss. Auf der Strecke trinke ich mindestens 15 mal schätzungsweise 250 bis zu 400 Gramm. Es ist eben verdammt heiß in Singapore, auch in der Nacht. Zwei bis dreimal gibt es Bananen und Futter aus der Tube. Das Tubenfutter ist so gut, dass es schon vor dem Schlucken im Blut zu sein scheint. Bei meinem ersten Marathon kannte ich dieses Futter noch nicht und rannte die letzten zwanzig Kilometer mit hungrigem Magen und sicher hart unterzuckert. Nicht am Sonntag.
Nach den ersten zehn Kilometern – meiner normalen Trainingsdistanz wie etwa von Saalfeld nach Rudolstadt – bin ich immer noch guter Dinge. Der Körper macht, was ich will und der Geist ist auch noch stark. Allerdings ist die Anlage der Strecke nicht wirklich hilfreich. Jetzt schon auf der Ostküste kommen immer mehr Läufer entgegen, während ich allein bis zum Wendepunkt noch etliche Kilometer zu arbeiten habe. Das frustriert ungemein.
Nach dem Wendepunkt bin ich dann zwar besser drauf, da ich ja schon auf dem Heimweg bin, während die Entgegenkommenden noch darauf hin arbeiten. Der Geist ist also in Form, der Körper wird aber langsam schlapp. Wie sehr wünsche ich mir dabei, die 30 doch bitte bald zu sehen. Dann wären es „nur“ noch zwölf.
Da ich normalerweise alleine laufe, habe ich auch keinen Motivator neben mir. Es motiviert aber schon, wenn ich einen bildhübschen Mädchenrücken vor mir laufen sehe, dem ich mit aller Kraft folgen möchte.
Mittlerweile ist es gegen neun und ich bin etwa von Saalfeld nach Rudolstadt, zurück nach Saalfeld und wieder nach Rudolstadt gelaufen. In Wirklichkeit geht es aus der Ostküste auf die freie Fläche zu Marina Barrage, das zwar auch am Pazifik liegt, wo es aber fast keine Bäume gibt, so dass das bisschen Meeresbriese gegen die Sonne keine Chance hat. Jetzt lerne ich, wie sich Saalfelder Bratwürste auf dem Rost fühlen müssen. Wir haben heute keine Wolke zwischen Sonne und Läufer. Das ist hart. Es ist sogar zu heiß, um sich auf den Boden zu setzen. Nach ein paar Kurven – es ist offensichtlich nicht so leicht, in Singapore 42 Kilometer zusammen zu bauen – geht es vorbei an Marina Bay Sands, wo es immer ausreichend Touristen gibt, die den Irrsinn eines Marathonlaufs auf dem Äquator belächeln. Immer in voller Sonne.
Dann, wenn ich mich schon total Scheiße fühle und etwa 73 Mal über den Ausstieg nachgedacht habe, stehen die Fotografen. Ich werde wohl nie dahinter kommen, warum die kein Bild von mir wollen, wenn mein Haar sitzt und ich noch halbwegs frisch dreinschaue. Frühestens nach 35 Kilometern werden Bilder gemacht. Das ist ultragemein. Aber es hilft. Auch wenn ich gerade am Gehen bin, um etwas auszuruhen, mache ich mich beim Erblicken der Kameras sofort wieder auf die Socken, um als „Läufer“ auf dem Bild zu landen. Bin ja kein Weichei.
Die letzten paar Kilometer sind köperlich eine Tortour. Das Knie schmerzt, es fühlt sich an wie Blasen im Schuh, das Genick ist total hart, und sogar die Hände sind geschwollen. Trotzdem laufe ich wie auf Flügeln, da ich in ein paar Minuten von meiner Lieblingsfreundin empfangen werde, mich hinsetzten und meine Beine ausstrecken kann. Die Beine machen schon lange nicht mehr, was ich will. Manchmal sind sie kurz vor dem Wegsacken. Tun sie aber nicht. Noch nicht.
Kurz nach dem Marathon kann ich ohne Probleme zum Auto laufen, einsteigen und aussteigen, Essen gehen und am Computer sitzen. Es wird erst in den Tagen danach etwas härter. Ich werde Treppen vermeiden. Wenn etwas auf den Boden fällt, werde ich es da ruhen lassen. Und ich werde entweder stehen oder sitzen und versuchen, die Phase dazwischen zu umgehen. Und ich werde eher den Bus nehmen, als den Wagen.
Meine Mutti fragt mich jedes Mal, warum ich denn so etwas mache, nachdem sie mich wieder einmal für verrückt erklärt hat. Klare Antwort: Was soll ich denn hier schreiben, wenn ich auf halber Strecke aufgebe. So bin ich lieber Angeber als Aufgeber.